Mitarbeiter bewerten sich gegenseitig

Mitarbeiter bewerten sich gegenseitig

Mitarbeiterbewertung gilt als modernes HR-technisches Mittel, in welchem Mitarbeiter mittels einer Software andere Mitarbeiter bewerten. Ein Segen oder ein moderner Fluch?

Zalando 2019 (Artikel 20 Minuten vom 20.11.2019):

Zalando-Personal fühlt sich überwacht. Zalando-Mitarbeiter müssen sich mit einer Personalsoftware gegenseitig bewerten. Die Angestellten fühlen sich ständig überwacht und gestresst.

Arbeitet der Kollege langsam oder ist er unhöflich, können Mitarbeiter das vermerken. Zonar heisst das Personalsystem von Zalando. Darauf können sich Arbeitnehmer gegenseitig bewerten, wie die «Süddeutsche Zeitung» schreibt. Wer gute Bewertungen erhält, kann eher mit einer Gehaltserhöhung oder Beförderung rechnen.

Mitarbeitern passt das System aber gar nicht: Zalando erzeuge damit Überwachung, Leistungsdruck und Stress, so lautet der Vorwurf. Zudem würden sich die Kollegen untereinander absprechen. «Gib mir ein gutes Feedback, dann gebe ich dir auch eines», so lautet das Motto, sagt eine Zalando-Mitarbeiterin zur «Süddeutschen».

Zalando sieht das anders: Das Bewertungssystem sei ein Fortschritt. Neu würden nicht mehr nur die Vorgesetzten ihre Mitarbeiter bewerten, sondern die Mitarbeiter einander. Das System sei fairer als vorher. Denn: Personalrelevante Entscheidungen würden nicht vollautomatisch getroffen, sondern von der jeweiligen Führungskraft zusammen mit einem unabhängigen Komitee, wie Zalando zu 20 Minuten sagt.

 

Postfinance 2020 (Bericht Schweizer Fernsehen vom 31.8.2020):

Amazon und Google kennen es schon. Auch bei der Postfinance können sich nun Mitarbeitende im Sinne eines Instant-Feedbacks gegenseitig Sterne verteilen und Noten geben. Die Arbeitseinstellung soll sich damit verändern. Bereits macht einen Drittel der Belegschaft freiwillig mit. Die Gewerkschaft ist empört und wittert Mobbing und die Gefahr einer Neid- und Missgunst-Kultur.

Die Arbeitspsychologin bestätigt, dass grundsätzlich alle Mitarbeitende Feedback und Wertschätzung wünschen. Und zwar möglichst nicht nur ein Mal pro Jahr beim Gespräch mit dem Vorgesetzten. Aber es gibt natürlich auch Mitarbeitende, die diese Art von Instant-Feedbacks und Sterne Verteilen nicht mögen.

Postfinance präzisiert, dass es dabei nicht um ein Bewertungssystem geht, – es soll lediglich das Verhalten der Arbeitskollegen und -Kolleginnen goutiert werden. Im Übrigen geht es nicht nur um Wertschätzung. Man kann sogar Gutscheine gewinnen.

 

Muss man diese neuen Bewertungssysteme nun als fortschrittliches Schulterklopfen oder als intrigantes Schiessen in den Rücken der Kollegen beurteilen?

Was steckt hinter solchen Absichten diverser Unternehmen? Wahrscheinlich soll durch das regelmässige und gegenseitige Feedbackgeben die Zusammenarbeit unter den Mitarbeitenden gefördert, der Teamgeist gestärkt und die Motivation erhöht werden. Das sind lobenswerte Absichten. Denn gute Teams und höhere Motivation bringen dem Unternehmen bessere Resultate.

Ein Sprichwort sagt:
Nicht die Finanzen, nicht die Technik, nicht die Strategie – Es ist die Teamarbeit, die den grössten Wettbewerbsvorsprung verschafft. Sowohl aufgrund ihrer Schlagkraft als auch aufgrund ihrer Seltenheit. Also wollen moderne Unternehmen wie Zalando, Amazon, Google und die Postfinance fortschrittlich agieren, und Nutzen daraus ziehen.

Ich bin etwas skeptisch mit diesen Versuchen und kann die Befürchtungen der Gewerkschaften und Mitarbeitenden ein Stück weit verstehen. Warum schreitet man den eingeschlagenen Weg nicht konsequent weiter, um umfassendere, gerechtere und systematischere Lösungen zu finden?

Bewertungssysteme, bei denen sich Mitarbeitende bzw. Teammitglieder gegenseitig bewerten, machen Sinn und sind zukunftsträchtig. Jeder im Team soll den anderen bewerten, mindestens einmal pro Jahr. Diese Bewertungen sollte adäquat in die jährlichen Mitarbeitergespräche und -Bewertungen einbezogen werden.
Gleichzeitig soll den Mitarbeitenden die Möglichkeit gegeben werden, ihren direkten Vorgesetzten zu bewerten. Auch diese Teammitglieder-Bewertungen gehören als gewichtige Wertung ins Qualifikationsgespräch mit dem Vorgesetzten. Solche Systeme müssen der Unternehmensgrösse und -Kultur angepasst sein. Sie müssen einfach zu verstehen und zu handhaben sein, und sie müssen von der Mitarbeiterschaft getragen werden.

Mit solchen ganzheitlichen Systemen nimmt man den Befürchtungen der Gewerkschaften und einem Teil der Mitarbeiten den Wind aus den Segeln. Sie sind gerechter, weil alle Mitarbeitende im System miteinbezogen sind. Bewertungen sind keine Zufälle mehr, sondern System, von dem alle profitieren. Das Leistungsniveau der Teams wird erhöht, und das Zusammengehörigkeits-Gefühl ebenfalls.

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3 Kommentare zu “Mitarbeiter bewerten sich gegenseitig

  1. Ist das nicht ein Versuch, sich aus der Verantwortung zu stehlen? So ganz nach dem Motto: ich kann ja nichts dafür, was andere über dich schreiben…

    Ein gutes, ehrliches Gespräch zwischen Chef und Mitarbeiter wird es immer brauchen, nur so kann das wichtigste Gut überhaupt in einem Arbeitsverhältnis sich entwickeln: Vertrauen – gegenseitig! Ansonsten wird ein Arbeitsverhältnis nicht überdauern, weder von Arbeitgeberseite, noch von Arbeitnehmerseite.

    1. Gut recherchierter Artikel. Das Fazit jedoch ist für mich schwer zu verstehen. Wo steht denn geschrieben, dass sich Firmen auf Gedeih und Verderb demokratisieren (lassen) müssen? Wenn alle immer überall mitreden und -entscheiden wollen, bringt das zwar sehr wahrscheinlich einen Haufen toller Ideen aber genauso wahrscheinlich würden nur sehr wenige davon umgesetzt werden. Mitarbeiter die ihre Kollegen bewerten ist für mich eine Ignoranz der Führungsverantwortung.

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